Der Mäuseturm-Erker

Erkennt Ihr den baulichen Unterschied der Fotos von 1856 und 2020? Im Laufe der Jahrhunderte hat der Mäuseturm viele Verwandlungen durchmachen müssen. Die meisten waren negativ, denn immer wieder wurde er in kriegerischen Auseinandersetzungen beschädigt.

Als nach dem Ende der sogenannten Franzosenzeit auf dem Wiener Kongress das Gebiet links der Nahe 1816 in preußischen Besitz überging (siehe  ArchivDingsTag der letzten Woche), war er in einem so jämmerlichen Zustand, dass der Einsturz drohte.

Der Binger Mäuseturm im Jahre 1856, nachträglich koloriert.Zwischen 1820 und 1830 ersetzte die preußische Regierung die durch Wasser- und Eisgewalt herausgerissenen Fundamentteile im Unterbau. Der Turmkörper blieb weiterhin eine Ruine ohne Dach. Victor Hugo notierte 1838 bei seinem Besuch in Bingen, dass die Wände nackt, ausgehöhlt und zernagt von der Witterung der Jahreszeiten seien. Er bestand nur noch aus den äußeren Mauern „als Boden nur Trümmer und als Decke die Wolken des Himmels“. Deutlich sichtbar waren die Spuren von Kanonen und Handfeuerwaffen aus dem 30-jährigen Krieg und den späteren Beschießungen.

Trotzdem war der Turm mit seiner Insel ein beliebtes Ausflugsziel im damaligen Rheintourismus-Boom. Die vielen Besucher trugen so sehr zu weiteren Schäden bei, dass der Besuch verboten und der Binger Steuermann Jacob Brilmayer als Turmwächter eingesetzt wurde.

Im strengen Winter 1844/45 brachen durch Hochwasser und Eisgang wieder Steine aus dem Unterbau heraus. 1848 gab es daher eine dieses Mal gründliche Sanierung des Unterbaus und die wichtige Eisbrech-Mauerung wurde vorgesetzt.

Die Rettung des Mäuseturms kam mit der zunehmenden Bedeutung der Dampf-Schifffahrt. 1850 richteten das rechtsrheinische Nassau (Hessen) und das linksrheinische Preußen einen gemeinsamen, wechselseitigen Wahrschaudienst vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung ein. Jede Regierung stellte einen Mann. Der Nassauer hieß Forschner aus Assmannshausen und der Preuße war ein Castello aus Trechtingshausen. Ihre Aufgabe war es, durch das Hissen der Fahne für eine reibungslose Durchfahrt durch das Binger Loch zu sorgen. Dazu mussten die Wächter jedes Mal eine Leiter hinaufsteigen, denn Treppen gab es nicht. Die Maueröffnungen waren ohne Fenster. Nur ein einfaches Dach bot Schutz vor Regen und Kälte. Doch nun kümmerte sich die preußische Regierung in Berlin ernsthaft um die Wiederherstellung der Mauern.

König Friedrich Wilhelm IV persönlich soll im Vorfeld Einfluss auf die Pläne genommen haben. Ganz im Sinne der damaligen Romantik erfolgte von 1856 bis 1858 der Bau neogotischen Stil, wie er sich uns bis heute präsentiert – bis auf den Unterschied, den eine Baumaßnahme im Jahr 1950 auslöste und der auf den Fotos dokumentiert ist.

Der Binger Mäuseturm im Jahre 2020.Um die Übersicht und die Sichtbarkeit der Signale für den ständig zunehmenden Schiffsverkehr zu verbessern, wurde 1950 der Erker an der Nordseite vom zweiten in den dritten Stock verlegt. Vier Wochen dauerte es, bis vor fast 75 Jahren der neue Erker aus rotem Mainsandstein ein Stockwerk höher in der Mauer verankert und das neue Dach aufgesetzt war.

Gleichzeitig wurde auch der Adler-Reliefstein versetzt. Bei der Planung war man von einer dünnen Sandsteinplatte ausgegangen. Tatsächlich handelte es sich aber um einen zwei Meter hohen, über einen Meter breiten und fast einen halben Meter tiefen Naturstein. Acht Handwerker waren tagelang damit beschäftigt, den Steinkoloss an seinen neuen Platz zu bringen.

Diese Baumaßnahme wurde 1950 von der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt, in deren Eigentum der Turm übergegangen ist. Zuständig ist das Wasser- und Schifffahrtsamt Rhein (WSA) der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV). Zuletzt wurde der Turm 2015 saniert, wobei Maßnahmen gegen Schimmelbefall durchgeführt wurden. Und er erhielt einen neuen Anstrich in Cremeweiß mit ockerfarbenen Akzenten.