Mantelsonntag - heute und vor 100 Jahren

Schon vor 100 Jahren öffneten die Binger Geschäfts am letzten Sonntag im Oktober. Auch im Inflationsjahr 1923, als der Lohn der Weinbergsarbeiter*innen für kein Kleidungsstück mehr reichte.

Mantelsonntag - heute und vor 100 Jahren

Seit Generationen ist der Sonntag vor Allerheiligen ein verkaufsoffener Sonntag gewesen, ein Fixpunkt im Jahreszyklus, für den die Binger Geschäftswelt sogar schon vor rund hundert Jahren mit Anzeigen geworben hat, wie in der Mittelrheinischen Volkszeitung und im Rheinischen Volksboten von 1929 zu lesen ist. Zu Vorkriegszeiten war er wohl der einzige verkaufsoffene Sonntag und ein Fixpunkt im Jahreszyklus bei den Geschäftsleuten, aber auch in der Bevölkerung. Der Volksmund hat diesem Ereignis den Namen „Mantelsonntag“ gegeben hat. Die Vermutung, dass die Bezeichnung etwas mit dem in der kalten Jahreszeit unumgänglichen Kleidungsstück zu tun hat, ist richtig.

Wie kam es dazu und wo ist die Verbindung zu der Namensgebung?Auch vor Einführung des Winterschlussverkaufs gab es Rabatte - zeitlich passend auch am Mantelsonntag.

Der Ursprung hierzu hat in unserer Region mit der Weinlese und der Kartoffelernte in den Monaten September und Oktober zu tun. Der Termin passte zum Brauch, dass man mit dem Allerheiligen-Tag seine Winterkleidung für den Gang in die Kirche anlegte und damit auch zur zentralen Gedenkfeier für die Verstorbenen auf dem Friedhof. Die ganze Stadt versammelte sich dort an den Gräbern der Familienangehörigen. Eine wunderbare Gelegenheit „den neuen Mantel auszuführen“, wie man es früher augenzwinkernd formulierte und die neue Errungenschaft der breiten Allgemeinheit zu präsentieren. Wer es sich leisten konnte, hatte auch noch für einen neuen Hut gesorgt oder sogar für einen Pelzüberhänger.
Die Geschäfte hatten sich für den Mantelsonntag mit der neuen Winterware eingedeckt. Es war viel los in Bingen. In den Geschäften drängten sich die Menschen aus Stadt und Land und warteten darauf bedient zu werden. Kleine Änderungen wurden oft gleich erledigt oder dann in den wenigen Tagen bis zu Allerheiligen. War der Mantel für die Dame oder der „Überzieher“ für den Herrn gefunden, schaute man im Hutgeschäft nach einer passenden Kopfbedeckung, einem Schal und Handschuhen. Auch die Schuhgeschäfte hatten viel zu tun.

Leselohn als finanzielle Basis für den EinkaufAnzeige des Modegeschäfts von Max Rosenthal

Zu Ende Oktober war die Weinlese in der Regel zu Ende, die Kartoffeln waren „gerafft“ und den Erntehelfern wurde der Tagelohn ausgezahlt. Mit etwas Glück gab es für die Winzer schon einen ersten Abschlag für die beim Wein-Kommissionär oder im Winzerverein abgelieferten Trauben. Der eine oder andere hatte vielleicht auch kurz vor der Weinlese das ein „Stück“ (1.200 Liter) Wein verkauft, um im Keller Platz für die Ernte zu schaffen, aber auch, um die Kosten für die Erntehelfer zu finanzieren. Schließlich kam zum Leselohn noch die Verpflegung hinzu. Es war der Zeitpunkt, an dem viele Familien über Bargeld verfügten, das über das übliche Monatsbudget hinausging. Von vielen ganz bewusst geplant, um sich ein neues Winterkleidungsstück zu gönnen. 

Mit dem Start der Weinlese begannen die Herbstferien

Auch Kinder gehörten zu den Nutznießern, denn die gehörten ganz selbstverständlich zu einer Lesemannschaft, sobald sie in der Lage waren, beim Abschneiden der Trauben eine eigene Rebzeile zu „lesen“ und dabei mit dem Arbeitstempo der anderen mitzuhalten. Zu den eigenen Kindern kamen noch welche aus der Nachbarschaft oder von Freunden hinzu. Während die eigenen Nachkommen allenfalls einen symbolischen Leselohn erhielten, wurden außerfamiliäre Kinder normal bezahlt. Ob diese dann das Geld ganz oder teilweise an die Familienkasse ablieferten oder für eigene Anschaffungen und Kleidung verwenden durften, wurde nach den Familienverhältnissen sehr unterschiedlich gehandhabt. Da es sehr selten Taschengeld gab, war das Geld, das Kinder und Jugendliche behalten durften, oft die einzige Bargeldquelle und musste für ein ganzen Jahr reichen.

Damit die Kinder auch im Herbst helfen konnten, richteten sich übrigens die Herbstferien nach der Weinernte und waren von Ort zu Ort unterschiedlich in der Terminierung. Der Start der Traubenernte wurde von dem örtlichen Leseausschuss für jede einzelne Rebsorte festgelegt und zwar frühestens für den übernächsten Tag. Am Zwischentag konnte man die Fuhrwerke rüsten. In den Schulen bedeutete dies, dass es die Herbstzeugnisse gab und sofort die mindestens dreiwöchigen Herbstferien für die Traubenlese und Kartoffelernte begannen.

Vor dem Lesetermin waren die „Weinberge geschlossen“. Parzellen und Wege durften weder von den Winzern noch von Spaziergängern betreten werden. Sogenannte Feldschützen achteten nicht nur sehr genau auf die Einhaltung, sondern waren auch mit der „Starenhut“ beauftragt. Wenn sich Stare in den Wingerten niederließen, musste diese durch Lärm vertrieben werden, denn ein Schwarm konnte leicht einen ganzen Weinberg leer fressen und die Arbeit eines ganzen Jahres wäre umsonst gewesen.